Dienstag, 8. August 2017

Tag 2 von Rifugio Lago Verde zu Rifugio Willy Jervis


Was für eine Plackerei, denke ich fast den ganzen Tag - angefangen von der kurzen Nacht und dem ersten Aufstieg des Tages, der uns 200 Höhenmeter auf den Col de Valpreveyre bringt, verfolgt von einer rennenden Rentnerwandergruppe, die an dem Morgen noch einen Gipfel in der Nähe besteigen will. Sie sind fit, sehr fit und treiben uns vor sich her. Am Col angekommen, tun mir so, als genießen wir die Aussicht und geben uns nicht die Blöße, dass sie uns jagten. Allen voran ein noch fitterer kurzbeiniger Mischling, der einige Kehren extra nimmt - zuvor von mir verspottet. Sein Besitzer erklärt uns, dass er schon mehrere Gipfel bestiegen hat, ein erfahrener Berghund. Unsere Wege trennen sich, wir steigen wieder ab. Sie ziehen singend und grölend bergauf.

Unser einziger Begleiter ab nun: Der Westwind aus Frankreich, das himmlische Kind, dass uns zwar die ganze Nacht am Schlafen abhielt. Denn der Wind fuhr so sehr ins Gebälk, dass ich mitten in der Nacht nachsah, ob sich eine Maus an den Vorräten vergeht. Aber so ist das schlechte Wetter von gestern fort und wir sehen sogar am Bivacco Spardi auf 2632 die Diva, die sich ganz selten zeigt.

Meist hinter Wolkenschwaden aus der Poebene versteckt. Der Mon Viso - der größte Berg der Cottischen Alpen mit 3841 m hoch und schon von den Römern mit eigenem Namen bedacht, ragt er wie eine Pyramide hervor und überragt alle Nachbarberge mit 500 Metern. Den ganzen Tag begleitet uns die schönste Sonne. Jede Wolkenbildung wird bis zum Abend hin vom Westwind einfach hinfort gepustet. Frieren wir Anfangs noch bei 2.800 m in seiner Brise, sind wir später dankbar über jede Böe, denn der Abstieg wird heiß und sehr lang. Aber zunächst genehmigen wir uns am Bivacco Spardi, was sich überraschend hinter einem Pass auftut ein Zuckerwasser. Sebastian von seiner Migräne gebeutelt fühlt sich zum ersten Mal an diesem Tag etwas besser und ich bekomme vom Hüttenwirt, wenn man das hier so sagen kann, die Gemsenfamilie am gegenüberliegenden Hang gezeigt. Zwei Kleine verstecken sich da im Grau des Bergs.
Nachdem ich meine Kamera habe liegen lassen, haben einige von uns einige extra Höhenmeter zu überwinden, aber ab nun geht es nur noch bergab. Die Tour wurde als mittelschwer angegeben, aber spätestens nach dem wir  fast 1500 abstiegen - die anderen 350 m Abstieg warten auf uns am Ende der Tour, sind wir platt und liegen fast eine Stunde im Schatten einer Fichte, bevor die letzte Herausforderung dieses Tages auf uns wartet.

Der Abstieg ist so schwer und lang, dass wir den Wasserfall, der neben uns herabstürzt ins Tal hinnehmen, die Schmetterlinge, die sich an feuchten Stellen in Scharen zusammenfinden und alle gemeinsam aufliegen, wenn wir vorbeistapfen - dass alles nehmen wir hin, rhythmisch schlängelnden wir uns den Berg hinab. Die Knie schmerzen schon bald der Kopf von der glühenden Sonne und Sebastian leidet still vor sich hin.

An der Alpe Crosenna auf 1650m ist es endlich geschafft, wir rasten. Zuvor hatte uns eine deutsche Familie erzählt, wie zäh der letzte Aufstieg werden würde. Wir dachten, dass das immer subjektiv sei, aber sie sollten recht behalten.  Aufstieg ist steil, zwar im Schatten, aber nach 9 Stunden wandern, geht uns dieser Aufstieg nicht mehr so leicht. An einer Stelle ist der Weg weggespült. Sebastian tastet sich vor, ich sehe ihn auf Gesteinsmehl rutschen und weiß, hier komme ich nicht allein durch. Zu groß die Angst hier am steilen Berg abzurutschen. Ich hyperventiliere kurz, bekomme meine Angst relativ schnell in den Griff und stapfe los.

Sebastian hat seinen Rucksack abgelegt und übernimmt für die Passage auch meinen. Ohne ihn wäre ich niemals dort hinauf gekommen. Und weiter gehen 400 Höhenmeter steil hinauf. Unsere Kräfte sind längst aufgebraucht. Jede neue Kehre am Hang denke ich, könnte die letzte sein, aber wir müssen noch Kilometer machen. Ich werde immer langsamer: und Sebastian schickt dem Rifugio eine Nachricht, dass wir zwar später kommen, aber gern noch essen wollen. Wir sind fast 11 Stunden unterwegs, als ich realisiere, dass ich mich jetzt zussammreissen muss, wenn wir noch im hellen ankommen wollen. auch wenn man nicht mehr kann vermeintlich, es geht doch immer noch was. Ich bin unterzuckert. Das geht auf die Moral, wie ich zu spät bemerke.
Mit einigen Nüsschen und den letzten Tropfen Wasser steigere ich mein Tempo. Kein Auge mehr für die Schönheit der Landschaft, für die aufsteigenden Wolken im Abendlicht. Selbst für Fotos bin ich zu geschafft. An einem Wasserfall ziehen wir Wasser und gestehen einander, dass wir die letzten Tropfen für den anderen aufgespart haben, falls man uns halb verdurstet gefunden hätte, so hätten wir noch Wasser gehabt. Aber auch das schaffen wir. Als an einer verwunschenen Lichtung, durch die Schafe kurz vor uns geführt wurden und das Gras wie ein englischer Rasen im Wald wirkt - wie im Grimms Märchen denke ich, wo sich ein Mädchen auf Moos bettet, bevor was auch immer passiert - blitzt das Rifugio Willy Jervis auf. Wir müssen nur noch absteigen. Langsam und hölzern kämpfen wir uns den Hang hinunter. Keine Geröllfelder wie uns von den Deutschen vorhergesagt worden waren zwar, aber nach nunmehr 12 Stunden sind unsere Füße platt, die Beine wackelig. Am nächsten Tag werden wir einen Ruhetag einlegen, um die Wunden zu heilen. Beide rechnen wir mit blauen Fußnägeln, aber auch die sind zäh, wir erholen uns alle schneller als gedacht.

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