Dienstag, 16. November 2010

Tramwaj-Geschichten

dass es nicht schnell gehen würde, wusste ich, als ich mich gegen den kleinen gelben Maschrutka-Bus entschied, der die gleiche Richtung nahm wie meine Straßenbahn. Aber ich liebe dieses Knattern, das schnelle Anfahren, das Ruckeln über lose gefahrene Schienen und aufgeregte Geklingel, als würde eine Marktfrau über Konkurrenz zetern, wenn sich im Kiewer Nachmittagsstau ein Auto zwischen uns und die Gleise schiebt. Und so nahm ich es in Kauf, dass ich 20 Minuten später erschien als verabredet. Unverschuldet selbstverständlich - wie immer. Denn ich konnte ja schlecht voraussehen, dass meine Fahrerin mit einem Fahrgast erst in Streit geriet, über die Regeln des Zusteigens, wenn doch die eigentliche Haltestelle erst 5 Meter weiter hinten beginnt und sich die kleine Frau mit schelmischem und streitsüchtigen Blick in die Runde umsieht, bevor sie wieder eine kaum zu überhörende Spitze über die Wichtigtuerei der platinblonden Fahrerin loslässt, während ihre Füße angriffslustig knapp über dem Boden baumeln. Böse funkelnde Blicke erntet sie und ein Streit bricht los, der keine Termine, keine Abfahrtspläne kennt und ich muss an den höheren Sinn denken, von dem mir neulich ein deutscher Taiga-Reisender erzählte. Denn den Deutschen geht der Sinn für das Höhere ab, und das ist schlecht für das Kollektiv. Lange, während wir uns langsam einen der sieben Hügel Kiews nach oben in die Stadt schlengeln, denke ich über den Sinn für das Kollektiv bei diesem Zwist nach, während wir an schlafenden Obdachlosen vorbeiknattern, die es sich noch gewärmt von der Novembersonne in den offenen Haltestellen gemütlich gemacht haben; an den alten Babuschki, die auf der Straße die letzten schon vom Frost gezeichneten Astern verkaufen wollen; an den Bauruinen eine neuen Zukunft versprechenden Kiews vorbeiziehen, das der Finanzkrise zum Opfer fiel; am Kinoteatr "Kiewer Rus" (Киевская Рус) vorbei, das überdimensional mit Saal Nummer 3 wirbt, wo man jetzt 3D Kino sehen kann. Kiew, das sympathisch festhängt in der Moderne, rasselt so an mir vorbei, während ich in einer Straßenbahn sitze, die schon in den 70er Jahren nicht mehr als modern galt.
Es fehlt mir schon jetzt, wenn ich daran denke, dass ich demnächst für lange Zeit nach Deutschland aufbreche. Wenn ich wiederkomme, werden die Scheiben mit Eisblumen überzogen sein, die Babuschki und Obdachlosen besseren Zeiten und hoffentlich im Warmen harren und Streitigkeiten auf den Frühling verschoben, wenn die Stadt wieder zu Leben erwacht.

1 Kommentar:

  1. Ein sehr schöner Text. Du kannst wirklich gut schreiben. Hatte ich dir ja schonmal gesagt, als ich die Bilder deiner Galerie mit den dazugehörigen Geschichten las.
    Übrigens noch alles nachträgliche zum Geburtstag! Wir haben uns diesmal gar nicht gegenseitig gratuliert.
    Du kommst wieder nach Deutschland? Wann denn? Wahrscheinlich muss ich nur mal weiterlesen.

    Ciao
    N.

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